Wenn nur noch Umrisse sichtbar bleiben
14. März 2023
Thurgauer Zeitung – Mithilfe eines Erlebnismobils lernten die Schulkinder in Wängi, was es bedeutet, wenn man nichts sehen kann.
«Welche Behinderungen kennt Ihr?» Diese Frage richtet Dave Gooljar an die Fünft- und Sechstklässler der Primarschule Wängi. Die Schülerinnen und Schüler zählen auf: «Wenn man taub, stumm oder blind ist oder eine geistige Behinderung hat.» Gooljar nickt und erklärt, dass es immer auch verschiedene Stufen der Beeinträchtigungen gibt. Als Beispiel können sich die Kinder anschliessend verschiedene Brillen aufsetzen, die ihnen zeigen, wie das Leben mit unterschiedlichen Seheinschränkungen wäre.
Gooljar arbeitet für die Christoffel Blindenmission (CBM). Diese setzt sich besonders für das Heilen und Verhüten von vermeidbarer Blindheit vor allem in Drittweltländern ein. Die CBM unterstützt dabei viele Projekte für Menschen mit anderen Behinderungen. Dabei besuchen sie auch Schulen und informieren darüber, wie es ist, blind zu sein. Klassenlehrerin Stefanie Mischler erklärt, dass die Kinder aktuell gerade mitten in einer Projektwoche stecken.
Dabei ist das übergeordnete Thema Kinderrechte. Das Projekt der CBM ergänze sich dabei gut. So werde dieses aufzeigen, dass Kinder weltweit nicht überall den gleichen Zugang zu medizinischen Angeboten haben. Und auch welche Auswirkung eine Erblindung für Kinder und Jugendliche in verschiedenen Ländern mit sich bringe. So könne beispielsweise der oft schon lange Schulweg nur noch schwer bestritten werden.
Wenn nur noch Umrisse sichtbar bleiben
Die Schülerinnen und Schüler haben dabei einige Fragen an Gooljar: Wie Blinde einen PC nutzen könnten? Der Experte erklärt, dass das 10-Finger-System schnell erlernt werden kann, und dieses würde man dann ja auch praktisch blind nutzen. Ebenfalls wird der Computer so eingerichtet, dass er Texte vorliest. «Wie Blinde denn aber überhaupt wissen, wo sie durchgehen müssen», ist die nächste Frage. Gooljar erklärt, dass es auch dafür entsprechende Apps gebe.
Weiter sind Bodenleitsysteme und Blindenführhunde immer eine Unterstützung. Und nicht zuletzt der verlängerte Zeigefinger, der Blindenstock. «Wie das ist, mit einem solchen zu gehen, können wir jetzt ausprobieren», meint Gooljar.
Denn auf dem Pausenplatz der Primarschule steht das Erlebnismobil der CBM bereit. Dieses hat bereits in der grossen Pause bei vielen Schülerinnen und Schülern für offene Fragen gesorgt. Nun erklärt ihnen Gooljar, wie man einen Blindenstock richtig hält, und reicht ihnen anschliessend eine Brille. Diese simuliert einen sehr starken Status des grauen Stars. Gemäss Gooljar würde in der Schweiz niemand an einer so starken Ausprägung der Krankheit leiden müssen, weil es operiert werden könne. Doch in anderen Ländern sei diese Sehbeeinträchtigung keine Seltenheit.
«Meine Hände» ruft ein Schüler überrascht. Durch die Brille werden die Hände der Kinder und die Umrisse der Schulkameradinnen und -kameraden zu einem undeutlichen Umriss. Einzig der Himmel lässt sich noch leicht von der grauen Masse unterscheiden.
Anschliessend erklärt Gooljar auf einem Plan den Weg, den die Schülerinnen und Schüler im Bus gleich gehen werden. In einer U-Form werden sie dabei auf verschiedene kleine Hindernisse stossen. Dabei warten auch einige Überraschungen in Form von Körben mit mysteriösen Inhalten auf die Kinder.
«Aber dort ist nichts Schlimmes drin, oder?», will jemand wissen. «Nur ein Kaktus», merkt Gooljar mit einem Augenzwinkern an, bevor er weiterfährt: «Nein, natürlich, es ist nichts Schlimmes oder Schleimiges drin.» Die Kinder stellen sich in einer Reihe auf. Dabei sind die Anspannung und eine gewisse Nervosität spürbar. Bevor sie unter Anleitung von Gooljar das Mobil betreten, setzen sie ihre Brillen auf.
Dabei erwarten sie Pflanzen an den Wänden, eine leichte Erhöhung, Holzschnitzelboden und eine Plastikkröte in einem Brunnen. Nach einigen Minuten spazieren die ersten bereits wieder über den Pausenhof. Dieses Mal mit Blindenstock und Brille.
Eine Erfahrung, um zu sensibilisieren
«Ich bin echt erschrocken», meint Jamie, neben ihm steht sein Schuelgspänli Marcel und nickt zustimmend. Die Pflanzen an der Seite des Erlebnismobils kämen unerwartet. Beide sind sich einig, es war eine spannende Erfahrung, wobei beide froh sind, dass es für sie bei dieser beleibt. Marcel sagt: «Es wäre schon blöd, wenn man sein ganzes Leben so verbringen müsste.»
Gemäss Gooljar sind in der Schweiz 50’000 Menschen blind und 325’000 Personen sehbehindert. Mit ihrer Arbeit unter anderem an den Schulen hoffen sie, die Schülerinnen und Schüler entsprechend zu sensibilisieren. «Es ist wichtig, dass sie keine Angst haben, wenn sie jemanden sehen, der beispielsweise blind ist oder im Rollstuhl ist.» Sondern dann entsprechend wissen, wie sie Betroffenen, wenn nötig, ihre Hilfe anbieten können.
Nina, Juana und Jessica geben ihre Brillen ab und versorgen die Blindenstöcke. Die drei sind sich einig, es war eine gute Erfahrung, wobei sie froh sind, dass sie diese einmal machen konnten. Jessica ergänzt: «Generell ist es ein gutes Thema der Projektwoche. Es ist wichtig, mehr über die Rechte von Kindern weltweit zu erfahren.» Die drei machen sich auf in Richtung Klassenzimmer. Dort wird eine weitere Dokumentation auf sie warten und den Teil vom Blindsein abrunden.
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