Mit dem Blindenstock über den Pausenplatz
September 2024
Bildung Schweiz – Wie nehmen sehbehinderte Menschen ihre Umwelt wahr? Und wo liegen die Herausforderungen für sie? Im Erlebnismobil der Christoffel Blindenmission erfahren Schülerinnen und Schüler, wie sich das anfühlt.
Wenn Dave Gooljar von der Christoffel Blindenmission auf Schulbesuch kommt, verspricht dies ein interessanter und lehrreicher Morgen zu werden. Auf dem Pausenplatz der Zürcher Schule Rütihof hat er ein Erlebnismobil parkiert. Im Beisein der beiden Lehrerinnen begrüsst Gooljar eine erste Klasse im Schulzimmer. Auf verschiedenen Tischen hat der Kursleiter Spiele und Gegenstände bereitgestellt, um den Kindern während der nächsten zwei Lektionen das Thema «Behinderungen» näherzubringen. Dabei geht es in erster Linie um die verschiedenen Formen der Sehbehinderung.
Die Lehre von den Sinnen
Um den Kindern eine Idee davon zu vermitteln, wie es ist, blind zu sein, verteilt Gooljar unterschiedlich präparierte Brillen. Die eine zum Beispiel hat in der Mitte einen grossen dunklen Fleck, sodass nur ausserhalb des Sehzentrums etwas zu erkennen ist. So sehen Menschen mit einer Makuladegeneration die Welt. Andere Modelle sind sehr dunkel oder komplett unscharf, lassen einen, wenn überhaupt, die Welt nur in schemenhaften Umrissen erkennen.
Gooljar sagt dazu: «Die komplette Dunkelheit ist nicht die häufigste Form der Blindheit. Und zum Glück gibt es ein paar Hilfsmittel für diese Menschen.» Auf die Frage, um welche es sich dabei handeln könnte, fallen den Kindern der Blindenstock und der Blindenhund ein. Und einige haben auch schon mal etwas von der Blindenschrift gehört.
Der Kursleiter thematisiert auch die anderen Sinne, die uns Menschen durchs Leben helfen. Und er erzählt davon, was passiert, wenn einer oder mehrere Sinne nicht mehr funktionieren. «Bei einer Sehbehinderung ist es ein bisschen so, wie wenn ihr in einem Wald seid und die Augen schliesst», erklärt er. «Dann beginnt ihr, mit euren Ohren umso besser hinzuhören.»
Um die Wichtigkeit der Sinne zu verdeutlichen, erwähnt Gooljar einen ehemaligen Mitarbeiter der Entwicklungsorganisation, der gehörlos ist. Bei ihm sind die Augen besonders wichtig, denn er kommuniziert mit der Gebärdensprache oder liest die Wörter von den Lippen seines Gegenübers ab. Zur Veranschaulichung formt der Kursleiter seine Lippen zu drei kurzen Wörtern, dessen Bedeutung die Kinder mühelos herausfinden: wo – was – wann.
Um zu ergründen, welche Herausforderungen auf die anderen Sinne zukommen, wenn man blind ist, hat Dave Gooljar verschiedene Materialien mitgebracht. Ein Schüttelmemory, bei dem es gilt, die zwei identisch tönenden Döschen herauszuhören, zielt auf den Hörsinn, während es beim Riechen an verschiedenen Kräuterbechern um den Geruchssinn geht.
Dem Tastsinn widmen sich gleich mehrere Spiele. Beim Steckwürfel geht es darum, verschieden geformte Klötzchen durch die passende Öffnung zu bekommen, selbstverständlich ohne dabei etwas zu sehen und unter Zeitdruck. Das gleiche gilt für das ABC-Puzzle oder den Bau eines Turms mit Klötzen unterschiedlicher Formen und Grössen.
Blindsein erfahrbar machen
Gooljar und sein Erlebnisbus ergänzen auf ideale Weise das Thema «Die fünf Sinne», das die Lehrerin Nina Messmer mit der ersten Klasse in «Natur, Mensch, Gesellschaft» durchnimmt. Eine Arbeitskollegin hat ihr von den Schulbesuchen der CBM erzählt. Werden die Sinne – und ganz besonders der Sehsinn – auf solch anschauliche Weise erfahrbar gemacht, hinterlässt das bei den Kindern einen bleibenden Eindruck.
Während sich die eine Klassenhälfte im Schulzimmer unter Anleitung von Messmer und der Klassenlehrerin Natalie Müller an den Spielen versucht, sehen sich die anderen Kinder das auf dem Pausenplatz stehende Erlebnismobil an. Gooljar erklärt, was es mit dem Fahrzeug auf sich hat: «Hier drin ist ein kleiner Rundgang mit verschiedenen Hindernissen aufgebaut. Den gilt es blind zu begehen – das heisst, mit einer dieser Brillen, die euch das Sehen verunmöglichen. Im Bus werdet ihr verschiedene Gegenstände antreffen. Versucht herauszufinden, welche das sein könnten.»
Doch zunächst bekommt jedes Kind einen Blindenstock zur Unterstützung. Damit üben sie erst einmal das unfallfreie Vorankommen auf dem Pausenplatz. Das Gefühl der Unsicherheit, verursacht durch die mangelnde Orientierung, ist überwältigend. Einige Kinder geraten deshalb ziemlich aus dem Häuschen.
Alles fühlt sich grösser und gefährlich an
Danach erfolgt endlich die Begehung des Erlebnismobils. Ein Kind nach dem anderen tastet sich durch den kurzen Parcours. Der Boden ist anfangs aus Holz und wechselt dann zu groben Kieselsteinen.
Ledrige, feuchte Blätter streifen Gesicht und Hände. In geflochtenen Körbchen liegen Spielsachen aus Wolle und Holz. Irgendwo hängt ein dickes Seil, andernorts ein Kupferkessel.
Wenn man den Rundgang sehenden Auges begeht, ist da nichts Spektakuläres. Das ändert sich jedoch mit der blind machenden Brille. Der Tastsinn, der normalerweise mit dem Sehsinn zusammenarbeitet, ist nun ganz auf sich gestellt. Das hat zur Folge, dass alltägliche Gegenstände zu geheimnisvollen Kreaturen werden. Bis das Gehirn realisiert hat, was man gerade berührt oder wo man gerade geht, fühlt sich alles grösser und gefährlich an. Die Plüschtiere werden haariger, die Blätter der Zimmerpflanze fleischig, der unebene Weg zum Hindernislauf.
Diese Erfahrung setzt bei den Schülerinnen und Schülern eine gehörige Portion Adrenalin frei. Entsprechend aufgedreht sind sie beim Verlassen des Mobils. Alle sind froh, dass sie die Brille, die ihnen Blindheit vorgaukelte, vom Gesicht nehmen können. Aber das eine oder andere Kind möchte dann doch nochmals erleben, wie es sich anfühlt, blind und mit dem weissen Stock in der Hand den Pausenplatz zu überqueren. Für Moritz war denn auch die Erfahrung mit dem Blindenstock das eindrücklichste Erlebnis dieses Morgens. Sein Kamerad Edward fand es im Erlebnismobil besonders abenteuerlich.
Die zwei Stunden mit Gooljar haben auf eindrückliche Art und Weise gezeigt, was eine Sehbehinderung für die Betroffenen bedeutet. Und es ist gut möglich, dass Kinder blinde Menschen nach dieser Erfahrung mit anderen Augen betrachten.
Roger Wehrli
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