Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen in der Schweiz

Zusammenfassung der Umfrage-Ergebnisse

Hintergrund

Mit der vorliegenden Ergebnisauswertung liegt erstmals eine breite Übersicht bestehender Organisation von und für Menschen mit Behinderungen in der Schweiz vor. Die Umfrage wurde im Rahmen des von der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) übertragene Mandat an die CBM Schweiz in Zusammenarbeit mit AGILE.CH durchgeführt. Es geht dabei um die Umsetzung der Artikel 11 und 32 der UNO-BRK. Die Ergebnisse geben wichtige Kenntnisse darüber, wie sich die Landschaft der Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen in der Schweiz und insbesondere in Bezug auf die Internationale Zusammenarbeit gestaltet.

Methodik

Die Umfrage, die vom 01. Januar 2022 bis am 27. Mai 2022 online aufgeschaltet und dreisprachig (Deutsch, Französisch, Italienisch) abrufbar war, richtete sich an alle in der Schweiz tätigen Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen. Die Verteilung des Links zur Onlineumfrage erfolgte über Netzwerke, Fachverbände und anhand interner Recherchen zu passenden Organisationen. Das Sampling entspricht daher einer Gelegenheitsstichprobe; die Ergebnisse stellen keine Ansprüche auf Repräsentativität. Aufgrund der zugesicherten Anonymität werden im Rahmen der Ergebnisauswertung keine Organisationsnamen genannt. Die Daten wurden insofern bereinigt, als dass Mehrfachteilnahmen und partiell ausgefüllte, respektive leer gelassene Fragebögen von der Auswertung ausgeschlossen wurden.

Stichprobe

Für die Auswertung der Umfrage wurden 50 Organisationen berücksichtigt. Davon sind 45 (90%) in der Deutschschweiz tätig, 22 (44%) in der Westschweiz und 19 (38%) im Tessin. 17 Organisationen sind gesamtschweizerisch tätig, während vier Organisationen ausschliesslich in der Romandie aktiv sind und eine Organisation nur im Kanton Tessin tätig ist.

Ergebnisse

Schaut man sich die Verteilung zwischen den Organisationen von Menschen mit Behinderungen, sogenannten Selbstvertretungsorganisationen, und Organisationen für Menschen mit Behinderungen an, zeigt sich folgendes Bild:

Viele Organisationen schätzen sich richtig ein und teilen sich nach dem Referenzrahmen des General Comments Nr. 7 bereits der Organisationsform zu, der sie auch aufgrund unserer Auswertung zugewiesen wurden. Dennoch wurden einige Organisationen zur weiteren Auswertung umgeteilt. Dies aufgrund ihrer Angaben zur Anzahl Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, Führungskräften und Vorstandsmitgliedern mit und ohne Behinderungen.

Es zeigt sich, dass bei dieser Frage ein Graubereich besteht und sich nicht jede Organisation eindeutig zuteilen lässt. Mit 52% haben nach unserer Kategorisierung schliesslich etwas mehr Selbstvertretungsorganisationen mitgemacht als Organisationen für Menschen mit Behinderungen.

Die meisten befragten Organisationen, die sich für eine spezifische Behinderung einsetzen, setzen sich für Menschen mit einer Mobilitätsbehinderung, Menschen mit einer psychosozialen Behinderung oder Menschen mit einer Hörbehinderung ein.

Mehr als die Hälfte der Organisationen arbeitet mit Stellen des Bundes und/oder des Kantons zusammen. Je 45% arbeiten mit den Gemeinden und/oder mit Organisationen auf internationaler Ebene zusammen. Hinsichtlich Finanzierung geben die Organisationen mehrheitlich an, durch Privatpersonen (72%), Stiftungen (70%) und/oder Bund, Kanton und Gemeinden (70%) finanziert zu sein. Damit zeigt sich eine gewisse staatliche Abhängigkeit, die für viele Organisationen besteht. Wie gross der Anteil der Finanzierung durch Bund, Kantone und Gemeinden bei den einzelnen Organisationen ist, lässt sich aufgrund der Fragestellung nicht näher beleuchten.

Um zu erfahren, in welchen Bereichen die Organisationen tätig sind, wurden sie gefragt, für welche Themen sie sich einsetzen. Mit 90% wird mit Abstand am häufigsten die Antwort «Das Bewusstsein für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft fördern» angewählt. Jeweils 50% oder mehr nennen folgende Themenbereiche:

  • Leichtere Informationen und Zugang zu Informationen
  • Selbstbestimmtes Leben/Assistenz
  • Politische Teilhabe
  • Beratung durch Menschen mit ähnlichen Erfahrungen
  • Bildung und Weiterbildung
  • Beratung rund um das Wohlbefinden im Alltag, den Umgang mit Freunden und anderen Personen
  • Gesundheit

Mit 20% respektive 12% engagieren sich die wenigsten Organisationen in den Bereichen «Internationale Zusammenarbeit» und «Sicherheit von Personen in gefährlichen Situationen». Die Organisationen setzen sich demnach insbesondere mit nationalen Gegebenheiten auseinander. Hier zeigt sich eine Lücke, die langfristig durch Selbstvertretungsorganisationen geschlossen werden sollte.

Die letzten beiden Fragen der Umfrage bezogen sich auf die UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK). Um Auskunft darüber zu erhalten, welche Bedeutung die UNO-BRK und das Staatenberichtsverfahren für die befragten Organisationen haben, wurden sie folgendes gefragt: «Nutzt Ihre Organisation die Artikel der UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK)?» und «Beteiligt sich Ihre Organisation an der Überprüfung der UNO-BRK?»

Das Ergebnis war insofern etwas erstaunlich, dass doch ein Viertel der befragten Organisationen angeben, die UNO-BRK nicht zu gebrauchen und 9 Organisationen (18%), dass sie es nicht wissen.

Dementsprechend ist es schlüssig, dass sich 23 Organisationen (46%) nicht an der Überprüfung der UNO-BRK beteiligt haben und 5 Organisationen (10%) es nicht wissen. Zumindest 18 Organisationen (36%) geben an, sich an der Überprüfung beteiligt zu haben. Die restlichen 8% hielten ihre Antwort in Form eines Kommentars fest. Die Form der Beteiligung könnte sich bei den 18 Organisationen allerdings auch darauf beschränken, dass sich die jeweilige Dachorganisation, wie zum Beispiel AGILE.CH, stellvertretend für die Organisationsmitglieder am Verfahren beteiligt.

Fazit und nächste Schritte

In vielerlei Hinsicht bestätigen die Ergebnisse die bestehende Wahrnehmung, wie sich die Landschaft der Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen in der Schweiz gestaltet. Dennoch sollen an dieser Stelle einige interessante Punkte aufgegriffen und vertieft diskutiert sowie die nächsten Schritte des Gesamtprojektes dargelegt werden.

Die Organisationsstrukturen weisen eine Vielfalt und Komplexität auf, die es herausfordernd machen, Selbstvertretungsorganisationen und Organisationen für Menschen mit Behinderungen trennscharf zu unterscheiden. Der General Comment Nr.­7 bietet zwar eine gute Grundlage, indem er festhält, dass Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderungen geführt und verwaltet werden müssen und eine Mehrheit der Mitglieder oder Angestellten Menschen mit Behinderungen sein müssen. Die Rolle der Eltern, Verwandten und Betreuer*innen bei Organisationen von Angehörigen muss gemäss GC Nr. 7 darin bestehen, Menschen mit Behinderungen zu unterstützen und sie zu wirkungsvoller Partizipation und einem selbstbestimmten Leben zu befähigen. Trotz dieser sehr konkreten Aussagen ist es in der Realität häufig schwieriger. Einerseits wies der Fragebogen hierbei einige Mängel auf und nicht alle Fragestellungen bzw. Antwortmöglichkeiten waren so formuliert, dass zu einer eindeutigen Einteilung gelangt werden konnte. Andererseits befinden sich viele Organisationen in einem Graubereich zwischen Organisationen für und von Menschen mit Behinderungen. Selbst- und Fremdwahrnehmung hinsichtlich der Einteilung gehen dann manchmal auseinander. Daher entstand bei vielen eine Diskussion darüber, wobei es bei einigen Organisationen für die weitere Auswertung zur Umteilung kam. Historisch betrachtet könnte diese Gegebenheit teilweise damit zu erklären sein, dass Organisationen häufig durch Angehörige aufgebaut wurden und noch nicht überall Menschen mit Behinderungen in den Gremien sitzen, die die Entscheide treffen. Hier geht es im Kern um das Selbstverständnis der Organisationen und ihrem Wunsch, was sie sein möchten. Noch nicht überall scheint dies geklärt zu sein oder steht noch nicht in Einklang mit der Organisationsstruktur. Hinzu kommt, dass sich die Mehrheitsverhältnisse in einem Vorstand rasch ändern können, wenn nicht genügend Menschen mit Behinderungen nachrücken oder noch tätig sind. Eine weitere Schwierigkeit besteht bei vielen Organisationen darin, dass sie nur einen Teil der Kriterien des GC Nr.­7 erfüllen – zum Beispiel, wenn zwar eine Mehrheit der Angestellten Menschen mit Behinderungen sind, diese aber keine Führungspositionen einnehmen.

Fest steht, dass es eine Diskussion darüber braucht, welche Organisationen als Selbstvertretungsorganisationen gelten und auftreten können. Es muss ein gemeinsames Narrativ auf der Basis des General Comment Nr.­7 geschaffen werden. Denn es ist von Bedeutung, dass untereinander dasselbe Verständnis herrscht und es keine subjektive Interpretationssache bleibt, wer eine Selbstvertretungsorganisation repräsentiert.

Des Weiteren zeigte sich eine eher tiefe Beteiligung am Staatenberichtsverfahren und eine eher geringe Verwendung der UNO-BRK in der täglichen Arbeit. Diese eher niedrige Beteiligung könnte möglicherweise mit folgendem Umstand zusammenhängen: Die Diskrepanz zwischen den Vorgaben der UNO-BRK und der Realität der Umsetzung ist so gross, dass die effektive Umsetzung der UNO-BRK als Wunschvorstellung wahrgenommen und daher ein Engagement als wenig aussichtsreich angesehen wird.

Ein weiterer Zusammenhang könnte auch sein, dass das Menschenrechtsmodel noch immer nicht angekommen ist, sowohl bei den Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen. Viele behindertenspezifische Organisationen wurden aus einer medizinischen oder sozialen «Rehabilitationssichtweise» gegründet und entwickelten sich entsprechend. Das heisst, die Organisationen haben sich immer noch nicht ganz von diesem «medizinischen» Model befreit.  

Als letzter Punkt möchten wir die beiden Bereiche «Internationale Zusammenarbeit» und «Humanitäre Hilfe» näher beleuchten. Die wenigsten Organisationen gaben an, in diesen beiden Bereichen tätig zu sein. Dies könnte einerseits damit zusammenhängen, dass es noch viele nationale Themen gibt, bei denen es grundlegende Verbesserungen bedarf. Im eigenen Umfeld Veränderungen anzustossen ist stets konkreter als dies im Globalen Süden für andere zu tun. Andererseits wurde im Fragebogen nicht die Begrifflichkeit «Humanitäre Hilfe» verwendet, sondern «Sicherheit von Personen in gefährlichen Situationen». Möglicherweise wurde diese Vereinfachung respektive Umschreibung des eigentlichen Begriffs, der aufgrund der Leichten Sprache verwendet wurde, missverstanden. Aber auch «Internationale Zusammenarbeit» könnte im Sinne von «Kooperation mit Dritten» aufgefasst worden sein. Denn bei der Webseiten-Recherche war bei den Organisationen, die diesen Themenbereich genannt haben, keine Zusammenarbeit mit dem Globalen Süden ersichtlich.

Aus den Umfrageergebnissen zeichnet sich daher ab, dass sich zurzeit keine Selbstvertretungsorganisation spezifisch im Bereich der internationalen Zusammenarbeit und humanitären Hilfe engagiert.

Die Ergebnisse dienen dazu, künftige Ansprechpartner für den weiteren Projektverlauf zu definieren und Erkenntnisse für die Aufgleisung der nächsten Projektschritte im Rahmen der Sensibilisierungskampagne zu erlangen. In den Fokus für den Kapazitätsaufbau rücken aufgrund der Ergebnisse Organisationen, die bereits Inklusionsberatung und -weiterbildung im nationalen Kontext betreiben und solche, die sich im Bereich der politischen Arbeit engagieren.

Als nächster Schritt findet nun ein erster, gemeinsamer Austausch mit interessierten Organisationen und Personen statt, die Wissen und Expertise im Bereich der internationalen Zusammenarbeit aufbauen möchten, um sich zukünftig engagieren zu können. Denn langfristig soll diese Lücke durch Organisationen von Menschen mit Behinderungen geschlossen werden und auch in diesem Bereich wirkungsvolle Partizipation und der Einbezug von Menschen mit Behinderungen möglich sein/zur Normalität werden. Im Rahmen des weiteren Projektverlaufs scheint zudem wichtig, das gemeinsame Narrativ der Definition von Organisationen von und für Menschen mit Behinderungen zu schärfen und zu stärken. Ebenfalls zur Diskussion steht, inwiefern es eine Stärkung im Bereich der Kenntnisse der UNO-BRK und des Menschenrechtsmodels braucht.

«Alle Rechte für alle Menschen mit Behinderungen» ist ein von AGILE.CH und CBM durchgeführtes Projekt der Schweizerischen Eidgenossenschaft.

Bei Fragen zum Projekt stehen Ihnen Raphaël de Riedmatten und Mirjam Gasser zur Verfügung. 

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